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Fernbehandlung - Innovationshürden überwinden

Ende letzten Jahres hat die Bundesärztekammer Erläuterungen zur Fernbehandlung veröffentlicht. Ziel war die Präzisierung der Vereinbarkeit telemedizinischer Anwendungen mit den Ärzte-Berufsordnungen. Vertreter der Internetmedizin sind damit (noch) nicht zufrieden. Ein Anstoß zur Diskussion.

 

Noch vor vier Jahren wurden Anbieter von Fernbehandlungsleistungen in der Medizin in Deutschland ausnahmslos vom Hof gejagt. Anbieter wie „DrEd“ fanden schließlich Unterschlupf im europäischen Ausland, wo die berufsrechtlichen Regelungen zur Fernbehandlung liberaler gehandhabt wurden. Der europäische Binnenmarkt sorgte für einen legalen Import der Fernbehandlung zurück nach Deutschland.


Seither entwickeln sich die Technologien und die Dienstleistungen der Fernbehandlung weltweit weiter. Auch in Deutschland gibt es immer mehr interessante und nachweislich hilfreiche Angebote der Fernbehandlung. Das damalige Vorurteil des Fernbehandlungsverbotes weicht immer mehr auf. Man hört die ehemaligen Verfechter dieses Verbotes förmlich zurückrudern. So eng habe man das gar nicht gemeint. Die Juristen, die damals den innovativen Produkten eine Abfuhr wegen des Fernbehandlungsverbotes erteilt haben, zeigen sich heute innovativ in den ­gängigen Zeitschriften und beschreiben die rechtlichen Möglichkeiten der neuen Fernbehandlung.   


Interessanter Fakt jedoch: Die Gesetze bezüglich der Fernbehandlung haben sich seither nicht geändert. Die relevante berufsrechtliche Regelung in § 7 Absatz 4 Musterberufsordnung für Ärzte ist seit dem 114. Deutschen Ärztetag in Kiel bereits seit 2011 unverändert in Kraft. Die Ärzte sind also zunächst mit einem Vorurteil ins Feld gezogen, ohne sich die eigene Selbstregulierung genauer anzusehen oder sich über die notwendige Interpretation Gedanken zu machen.


Heute nun kommt der Arzt auch in seiner Praxis kaum noch um Fernbehandlung herum. Wie sonst soll er z.B. mit einer notfallartigen E-Mail eines Patienten umgehen? Die Ärzteschaft kann sich dem Einfluss und den Vorteilen der Internetkommunikation im Sinne einer optimalen Medizin nicht mehr entziehen und plötzlich ändert sich die Meinung zur Fernbehandlung und der Status „Fernbehandlungsverbot“ fällt.  


Politische Reaktionen auf unklare Rechtslage
Die Lage ist so verwirrend, dass sich die Bundesärztekammer dazu hinreißen lässt, am 11.12.2015 Hinweise und Erläuterungen zu § 7 Absatz 4 MBOÄ (Fernbehandlung) herauszugeben, um der verwirrten Anhängerschaft gegenüber klarzustellen, was denn nun mit der Regelung zur Fernbehandlung aus dem Jahre 2011 wirklich gemeint war.


Zeitgleich erkennt der Gesundheitsminister, dass ja immer noch die lästige Fernbehandlung aus dem europäischen Ausland in Deutschland angeboten wird und hier gar keine rechtliche Einflussnahme besteht. In einem Referentenentwurf zur AMG-Novelle vom 6.11.2015, auch „Lex-DrEd“ getauft, wird nun versucht die Fernbehandlung in dem Arzneimittelrecht zu regeln, um so den Vertrieb von Arzneimitteln nach einer Verordnung aus dem europäischen Ausland auszuschließen. Dabei will man sich den neuen Entwicklungen nicht verschließen und nimmt die Erkenntnisse der Ärztekammer über die „neue“ Auslegung der berufsrechtlichen Regelung zur Fernbehandlung gleich mit auf und vermutet dabei, man sei nun aber sehr modern und innovativ, weil man bereits erkannt hat, dass ein Fernbehandlungsverbot nicht mehr zum Tragen komme.


Der Primat des ersten Arztbesuches
All das klingt nun danach, als wenn ein anfängliches Vorurteil doch noch enttarnt worden sei und wir uns heute auf eine innovative und zukunftsgerichtete Regelung der Fernbehandlung verlassen könnten. Unbemerkt hat sich aber jetzt erst der wahre Fehler eingeschlichen, welcher der Innovation und der medizinischen Zukunft in Deutschland erheblichen Schaden zufügen kann. Bis jetzt war es zumindest möglich, dem Vorurteil des Fernbehandlungsverbotes mit der tatsächlichen anderslautenden gesetzlichen Regelung entgegenzutreten, wenn einem die Chance hierfür gelassen wurde. Heute hat die Bundesärztekammer sich aber aus dem Fenster gelehnt und die Grenzen noch einmal klar definiert. Auch die Änderung des Arzneimittelrechts wird die nun geänderte Rechtsauffassung zur Fernbehandlung anschließend manifestieren. Jetzt müssen wir aber sicher gehen, dass diese Regelung nicht wieder von Vorurteilen belastet ist und vielleicht viel zu kurz greift.


Die neue Rechtsauffassung zur Fernbehandlung ist dahingehend zusammenzufassen, dass eine Fernbehandlung immer dann in Ordnung und rechtmäßig ist, wenn es vorher zumindest einen physischen Arztbesuch gegeben hat. Kurz: Der Erstbesuch beim Arzt wird heiliggesprochen. Danach kann aus der Ferne diagnostiziert, behandelt und verordnet werden. Hauptsache der Arzt hat sich den Patienten einmal angesehen. Diese grundlegende Regel steht nun kurz davor, für alle Zeiten die Meinung der Beteiligten zu manifestieren und auch in unsere Gesetze gegossen zu werden. Ein Sieg für die Fernbehandlung?


Wie der genauere Blick auf die Dokumente der Hinweise der Bundesärztekammer und den Gesetzentwurf zeigt, sind hier viele Fragen noch völlig ungeklärt. Beispielsweise ist in keiner der Stellungnahmen geklärt worden, wie dieser erste Arztbesuch mit der weiteren Behandlung in Zusammenhang zu stehen hat. Reicht es aus, dass ich mich einmal bei meinem Hausarzt blicken lasse und damit jede weitere Fernbehandlung legitimiere? Oder muss sich der Erstbesuch genau auf eine Indikation beziehen? Was ist, wenn der Krankheitsverlauf sich ändert? Ab wann ist es Zeit für einen neuen Erstbesuch?


Diese Fragen tauchen deswegen auf, weil die Heiligsprechung des ersten Arztbesuches das Problem der Fernbehandlung nicht trifft. Eine medizinische Maßnahme muss immer individuell abgewogen werden. Medizin ist auch keine Momentaufnahme, sondern ein laufender Prozess. Eine Maßnahme wie einen Arztbesuch als unabdingbares Mittel zu manifestieren ist nicht im Sinne einer guten Medizin. Ebenso wenig wird heute nach einem Unfall immer eine Röntgenaufnahme gefordert. Erst wenn die Faktoren darauf hinweisen, dass möglicherweise die Fraktur eines Knochens infrage kommt, macht die Aufnahme Sinn. Über diesen Sinn entscheiden der Arzt und der Patient.


Die Frage nach dem Sinn wird bei einem immer notwendigen ersten Arztbesuch aber gesetzlich für alle denkbaren Fälle ausgeschlossen. Die Freiheit der Medizin jedoch muss darauf bestehen, dass die Frage nach einem Sinn nicht dem Gesetz, sondern dem Arzt und dem Patienten obliegen.


Potenziale der Internetmedizin heben

Die Möglichkeiten der Internetme­dizin entwickeln sich rasant und ein greifbarer Entwicklungsstand lässt sich heute nicht einmal erahnen. Hier ist abschließende Weitsicht gefordert.


Der unbefangene Blick auf die weitere Entwicklung verrät, dass der Patient auch außerhalb eines physischen Kontaktes mit einem Arzt viele Daten und Parameter über sich erfahren und sammeln wird. Herzschlag, Gewicht, Aktivitäten, Schlafverhalten, Ernährung, Blutwerte, Symptome, Auffälligkeiten und auch Gensequenzen bedürfen für ihre Erfassung schon heute nicht mehr des physischen Arztbesuchs. Außerdem birgt das Internet das Weltwissen der Medizin in einer Vielfalt, in der es kein einzelner Mediziner wiedergeben kann. Die Stärke des Internets liegt in der Fähigkeit, Informationen immer und überall – also auch unabhängig von Arztpraxen – abzurufen und intelligent zu verknüpfen.


Im Ergebnis ist heute bereits klar absehbar, dass rund um den Gesunden und den Patienten mehr Informationen über seine Gesundheit außerhalb einer Arztpraxis verknüpft und ausgewertet werden können als im Rahmen eines physischen Kontaktes. Die Medizin als Lehre vom gesunden und kranken menschlichen Organismus, von seinen Krankheiten, ihrer Heilung und Vorbeugung wird außerhalb der physischen Praxis stärker und allgegenwärtig sein. Dies ist ein Erfolg der modernen Entwicklungen, dem man sich nicht verschließen darf.


Innovationshürde
Bei dieser logischen Fortführung der sichtbaren Möglichkeiten des Internets erscheint es abwegig, die rechtlichen Möglichkeiten unseres medizinischen Eingreifens von einem ersten physischen Arztbesuch abhängig zu machen. Unbestritten haben das Internet und der reine Austausch von Daten seine Grenzen. Der menschliche Körper besteht aus Fleisch und Blut und nicht aus Prozessoren und Speichern. Die Untersuchung und die Behandlung dieses Körpers muss zwangsläufig physisch erfolgen. Dies wird aber in den seltensten Fällen beim ersten Arztkontakt geschehen, der heute offensichtlich geheiligt ­werden soll. Also kann die logisch zu erwartende Entwicklung der Internetmedizin keinen Gewinn aus der rechtlichen Notwendigkeit eines physischen Erstbesuches ziehen. Vielmehr bedeutet dieser Pflichtbesuch eine große Hürde, die viele der organisatorischen, diagnostischen und heilenden Möglichkeiten des Internets vereiteln wird.


Im Sinne eines Rechts auf Gesundheit bedeutet dies einen erheblichen Eingriff in das Grundrecht auf Gesundheit durch die Beschneidung der neuen medizinischen Methoden im Rahmen der Fernbehandlung und Fernverordnung. Es steht fest, dass die Gesundheit durch diese Beschneidung einen empfindlichen Schaden nehmen wird, der im Sinne einer Verhältnismäßigkeit nur durch eine noch größere Gefahr der Internetmedizin zu rechtfertigen ist.


Also wären Ärztekammer und Gesetzgeber gut beraten, sich der Gefahren der Internetmedizin ausreichend bewusst zu werden und sich diesen differenziert zu nähern. Vorurteile oder allgemeine Ängste vor dem Neuen haben hier keinen Platz.


Hand in Hand
Physische Medizin und Internetmedizin müssen in absehbarer Zukunft Hand in Hand im Sinne der Gesundheit des Patienten arbeiten. So können auch die Gefahren für die Gesundheit optimal abgewendet werden. Dieser notwendigen Verknüpfung wird aber weder mit der Stellungnahme der Bundesärztekammer, noch mit der Gesetzesinitiative zum AMG Vorschub geleistet. Vielmehr besteht durch solche Vorstöße die Gefahr, die notwendige Zusammenarbeit zu erschweren und zu verhindern. Unter dieser Betrachtung ergibt es keinen Sinn, den Erstbesuch beim Arzt zu heiligen. Vielmehr ist jetzt schon klar, dass bereits sehr viel heilende und sinnvolle Medizin geleistet werden kann, bevor der Patient sich in die notwendige physische Medizin begibt.


Nach der Erörterung dieser Hintergründe stellt sich die Frage, wer überhaupt die Legitimation erhalten soll, um über die Indikation von Arztbesuchen oder Internetmedizin zu richten. Im ersten Schritt ist dies sicherlich nicht der Gesetzgeber. Als ausgebildete und geprüfte Instanz für medizinische Entscheidungen gilt in Deutschland der approbierte Arzt. Wenn es darum geht, eine medizinische Entscheidung im Einzelfall lege artis zu fällen, müssen wir auf diese Instanz zurückgreifen. Das notwendige Maß der Internetmedizin als sinnvolle Ergänzung und auch Alternative zum physischen Arztbesuch kann und muss alleine der Arzt erwägen und zur Anwendung bringen.


Der Gesetzgeber muss erst dann eingreifen, wenn dem Arzt das Vertrauen für eine medizinisch tragbare Entscheidung über das notwendige Maß der Internetmedizin entzogen wird. Ein Widerspruch der Ärzteschaft, dann müsse man sich ja um diese neuen Methoden der Internetmedizin kümmern und auch hierfür haften, kann nicht gelten. Genau das ist die Aufgabe der Ärzteschaft, sich neuen medizinischen Methoden zu widmen und unter Einbindung der hierbei erworbenen Kenntnisse Entscheidungen im Sinne des Patienten zu fällen. Stößt ein Arzt im Rahmen der Fernbehandlung auf eine Indikation zum Arztbesuch, dann muss er den Patienten hierzu auffordern. Kann der Arzt in der Differenzialdiagnostik aus der Ferne nicht ausschließen, dass ein physischer Arztbesuch weitere wertvolle medizinische Erkenntnisse mit sich bringen könnte, so muss er den Patienten zur weiteren Abklärung zu einem physischen Arzt überweisen.


Die Lösung zum Thema Fernbehandlung liegt daher auf der Hand. Fernbehandlung ist eine neue Methode, die vom Arzt eingesetzt werden muss, um eine optimale Medizin langfristig zu gewährleisten. Der Arzt muss wie bei jeder anderen medizinischen Methode entscheiden, ob eine Diagnostik, Behandlung und Verordnung aus der Ferne möglich ist oder ob er einen physischen Arztbesuch für notwendig hält, um eine weitere Abklärung zu erreichen.

 

Autor: Sebastian Vorberg
ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht sowie Vorstandssprecher des Bundesverbandes Internetmedizin.
Kontakt: sv(at)medizinanwalt.de