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Der digitale Patient

© vege

Im Zuge der individualisierten Medizin eröffnen digitale Patientenmodelle die Möglichkeit, die Fülle an Informationen und Daten des Patienten zu einem Bild zusammenzufügen. So können auf den Patienten individuell zugeschnittene Therapieoptionen simuliert werden. Gerade für die Chirurgie eine spannende Sache.

Neue technische und medizinische Erkenntnisse tragen in den letzten Jahren zur Weiterentwicklung klinischer Untersuchungsmethoden bei, die kontinuierlich in die Praxis eingeführt werden. Hoch spezialisierte Testmöglichkeiten und daraus resultierende komplexe Untersuchungsergebnisse bieten eine bessere Grundlage für die Behandlung und eine individuelle, auf den Patienten zugeschnittene, medizinische Versorgung. Sie erschweren jedoch die ärztliche Entscheidungsfindung ungemein. Digitale Patientenmodelle sollen zukünftig darin unterstützen, der Informationsfülle Herr zu werden. Die Vision: integrierte Computermodelle der mechanischen, physischen und biochemischen Funktionen des Menschen und damit eine individuell zugeschnittene, evidenzbasierte Therapieauswahl.


Klinische Daten, Messwerte, Bilddaten, Diagnosen sowie der Krankheits- und Behandlungsverlauf müssen bei der klinischen Entscheidungsfindung berücksichtigt werden. Hinzu kommen zunehmend Lifestyle- und Sensordaten, die Patienten selbst sammeln und die zusätzlich Aufschluss über die Fitness und den gesundheitlichen Allgemeinzustand geben – ein nicht unwesentlicher Aspekt bei der Therapieauswahl. Die Schwierigkeit besteht darin, all diese Daten in der Therapieentscheidung zu berücksichtigen, zu gewichten und dann zu einer Therapieentscheidung zu kommen, die für den einzelnen Patienten optimal ist.  Die Datenanalyse erfordert umfassendes Hintergrundwissen hinsichtlich der Abhängigkeiten und Zusammenhänge zwischen den einzelnen Untersuchungsergebnissen.

 

Beispielsweise kann die Wirksamkeit eines Medikaments vom Erbgut des Patienten abhängen – Wissen, das bei der Auswahl einer Therapie beachtet werden sollte. Ein digitales Patientenmodell liefert eine integrierte Sicht auf den Gesundheitszustand eines Patienten beziehunsweise auf ein Organ oder Organsystem. Es liefert relevante Informationen einschließlich morphologischer, funktionaler, statischer oder dynamischer Daten. Gleichzeitig stellt es Wissen bereit, um eine Therapieentscheidung treffen zu können. Verschiedene Therapieoptionen können an einem Patientenmodell simuliert werden und somit in der Chirurgie, aber auch in anderen medizinischen Fachbereichen unterstützen.


Seit einigen Jahren beschäftigen sich verschiedene Forschergruppen im Kontext von Förderprogrammen wie DISCIPULUS oder Virtual Physiological Human mit dem Konzept eines digitalen Patienten und digitaler Patientenmodelle. Ein digitaler Patient ist ein umfassendes Computerprogramm, das eine virtuelle Version eines Menschen erzeugen kann. Dieser digitale Patient ermöglicht es, Simulationen von Krankheits- und Heilungsprozessen auf dem digitalen Selbst laufen zu lassen und Vorhersagen zum Krankheitsverlauf oder Therapieverlauf zu berechnen. Im menschlichen Körper laufen viele verschiedene Prozesse ab – entsprechend werden verschiedene Methoden benötigt, um die unterschiedlichen Abläufe und Zusammenhänge zu modellieren. In einem vollständigen digitalen Patienten sind verschiedenste Modelle integriert: 3D-Volumenmodelle zu einzelnen Organen, 3D-Oberflächenmodelle, funktionale Modelle und probabilistische Modelle.


Dreidimensionale graphische Modelle werden aus multimodalen Bilddaten, also Schichtaufnahmen  von bildgebenden Verfahren aus verschiedenen Modalitäten (CT, MRT), erzeugt. Virtual Physiological Human (VPH)-Modelle, wie sie am Auckland Bioengineering Institute entwickelt werden, basieren auf einem systemischen Ansatz und zielen darauf ab, physiologische Prozesse in verschiedenen Längen- und Zeitskalen zu integrieren. Probabilistische graphische Patientenmodelle nutzen Informationen und Daten aus ganz unterschiedlichen Quellen und bilden die Abhängigkeiten zwischen diesen Informationsentitäten in einem Graphen mit Wahrscheinlichkeiten ab.


Wo können Patientenmodelle in der Chirurgie helfen? Geometrische und funktionale Modelle können genutzt werden für die Therapie- und Operationsplanung, perspektivisch auch zur Ressourcenplanung oder Robotersteuerung. Eine präoperative Modellierung des individuellen Patienten beziehungsweise der für die OP relevanten Aspekte bildet die Grundlage für eine Automatisierung von Vorgängen im OP.  Häufig existieren verschiedenste Daten über einen Patienten. Ein integriertes digitales Patientenmodell kann präoperative Bilddaten in einem 3D-Modell zusammenführen, Oberflächenmodell und Volumenmodell, um Oberflächen für die OP-Bearbeitungsschritte bereitzustellen. Funktionale Modelle unterstützen, um in einer präoperativen Simulation den Erfolg eines Eingriffs besser beurteilen zu können. Präoperativ können die Modelle während der Planung zum Einsatz kommen: Neben der reinen Visualisierung können Operationsschritte (Sägen, Fräsen, Schnitte ausführen, Gewebe bewegen) simuliert werden und somit auf das zu erwartende OP-Ergebnis geschlossen werden. Intraoperativ können neue Daten anfallen, die eine Anpassung des Vorgehens nach sich ziehen können: Während einer OP verschieben sich insbesondere Weichgewebe, deren genaue Lage mithilfe intraoperativer Messungen bestimmt werden soll.

 

Ein Patientenmodell wie zum Beispiel ein funktionales 3D-Modell des Herzens repräsentiert die anatomischen Strukturen genau und kann als Referenzmodell bei der Planung verwendet werden. Bei Aufzeichnung einer Operation werden Patientenkoordinaten vom realen Patienten auf das Modell registriert und bei der Projektion der Zugänge wiederum auf den Patienten im Operationssaal registriert. Das Patientenmodell wird somit Basis für die Distanzberechnung zur Kollisionsvermeidung und Optimierung des Bewegungsfreiraums.


In einem probabilistischen Modell werden anatomische, physiologische und genetische Informationen über den Patienten zusammengeführt, die bei der Therapieentscheidung eine Rolle spielen. Ein Softwaresystem, das auf einem solchen digitalen Patientenmodell basiert, kann dabei helfen, alle relevanten Informationen zu berücksichtigen und korrekt zu bewerten.


Für das Krankheitsbild Kehlkopfkrebs wurde in der Nachwuchsforschungsgruppe „Digitales Patientenmodell“ am Innovation Center Computer Assisted Surgery ein Patientenmodell in Form eines probabilistischen Graphen entwickelt. Dieser Graph enthält sämtliche medizinische Informationen, die in ihrer Bedeutung und Abhängigkeit zueinander dargestellt werden. Auf Basis von wissenschaftlicher und klinischer Evidenz aus regelmäßiger Analyse von Tumorboardentscheidungen, Auswertung von Leitlinien und relevanter Literatur wurden entscheidungsrelevante Parameter und Abhängigkeiten zwischen diesen Parametern identifiziert und entsprechend ihres Einflusses auf den Verlauf und die Ausprägung des Krankheitsbildes gewichtet.

 

Der Graph besteht aus 800 Knoten und über 1 100 Kanten. Dabei besitzt jeder Knoten im Modell die Ereignisse zur Informationsentität und die dazugehörigen Quellen, aus denen die Informationen erarbeitet wurden. Noch werden die Modelle manuell generiert – Experten tragen die relevanten Informationsentitäten zusammen und bauen entsprechend der Abhängigkeiten einen Graphen. Perspektivisch sollen diese Entscheidungsmodelle halbautomatisch erstellt werden unter Nutzung von Text- und Datamining-Methoden.


Der entstandene Graph repräsentiert die komplexen Informationszusammenhänge, die unmöglich von einem Arzt ohne Computerunterstützung noch vollständig berücksichtigt werden können. In einer zukünftigen Applikation können die Ärzte ihre persönliche Meinung mit den Informationen des Modells abgleichen und dadurch zu einer objektiveren Therapieentscheidung kommen. Außerdem eignet sich das digitale System auch zur Entscheidungsunterstützung. Beispielsweise kann aus dem Graphen berechnet werden, welche Untersuchungen noch nötig sind, um eine gute Entscheidung für die Behandlung zu treffen.

 

Ziel ist es, das entstandene digitale Patientenmodell im Tumorboard des Leipziger Uniklinikums einzusetzen. Dort soll es entscheidungsrelevante Zusammenhänge aufzeigen, integrierte Informationen präsentieren und so als Diskussionsgrundlage bei der ärztlichen Kommunikation dienen. Die persönlichen, ärztlichen Sichtweisen werden einer evidenzbasierten Sichtweise gegenübergestellt, sodass eine objektivere Therapieentscheidung getroffen werden kann. Integriert mit geometrischen oder funktionalen Patientenmodellen können anhand des probabilistischen Modells berechnete Therapievorschläge in einem patientenspezifischen geometrischen Modell.


Ein ganz wesentlicher Vorteil eines solchen modellbasierten Vorgehens ist die dadurch erreichte Nachvollziehbarkeit und Objektivität von Therapieentscheidungen.  Methoden und Technologien, die das individuelle und ganzheitliche Verständnis vom einzelnen Patienten weiter durchsetzen, werden zukünftig enormen Einfluss auf die Qualität der Gesundheitsversorgung nehmen. Ein vollständigeres Bild vom einzelnen Patienten einschließlich der Krankheitssymptomatik und der Lebensumstände kann in die Entscheidung einfließen.

Text: Kerstin Denecke, Professorin für Medizininformatik an der Berner Fachhochschule